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Von Pferden und Zebras

Medizin ist eine Kunst!

Ja, wirklich, es ist keine reine Wissenschaft, denn sonst könnten wir wohl nur weniger als die Hälfte unserer Patienten richtig behandeln.
Denn vieles in der Medizin hat mit Erfahrungswerten zu tun und auch das Zwischenmenschliche spielt eine große Rolle bei der Diagnosefindung und Therapie. Daher kann man ohne Übertreibung von einer Kunst sprechen, die man auch erst einmal aktiv erlernen muss. Aus dem selben Grund sagt man auch es wird „nach den Regeln der Kunst“ (Lege artis) gehandelt und man spricht von einem „Kunstfehler“ wenn man das nicht tut.

Pferd
Hier gibt es keine Diskussion
– das ist definitiv ein Pferd!

Und nicht zuletzt fordert man eine „zweite Meinung“, wenn man trotz aller Wissenschaft seinem Urteil nicht sicher sein kann. Das alles zeigt Dir, dass Du Dir zu Deinem theoretischen Wissen aus dem Studium außerdem noch ein „Gefühl“ für die Erkrankungen entwickeln musst.
Und das ist leichter gesagt als getan. Verstehe mich bitte nicht falsch.

Du brauchst schon Dein ganzes medizinisches Wissen, das Du Dir angeeignet hast, und viele Krankheiten sind auch durch harte Fakten festzustellen, doch früher oder später kommst Du an den Punkt, an dem mehrere Erkrankungen in Frage kommen. Und für diese Fälle muss man sich eine Herangehensweise überlegen, mit der man das Problem löst.

In meiner Weiterbildung hat ein Chefarzt immer gesagt:

„Wenn Sie das Geklapper von Hufen hören, dann denken Sie immer erst an Pferde und nicht an Zebras!“

Und er ergänzte häufig noch:

„Das Häufige ist häufig und das Seltene ist selten!“

Was hat er damit gemeint?

Nun ja, bevor man über die unmöglichsten und seltensten Ursachen für ein Beschwerdebild nachdenkt, sollte man erst einmal ausschließen, dass es sich dabei um eine sehr häufig auftretende Krankheit handelt. Die Kunst besteht jetzt darin, trotzdem noch die Patienten heraus zu fischen, die tatsächlich eine seltene Erkrankung haben und da ist besonders viel Aufmerksamkeit gefragt, wenn solch eine seltene Krankheit dann ein Notfall sein kann, der einer schnellen Behandlung bedarf.

Pferd oder Zebra

Ein typisches Beispiel kann Schmerz hinter dem Brustbein sein. Bei einem Patienten mit bekanntem Sodbrennen, der erst 30 Jahre alt ist, spricht alles für Schmerzen aufgrund einer Entzündung der Speiseröhre. Bei einem so jungen Patienten ist es zwar sehr selten, doch ein Herzinfarkt kann die selben Beschwerden machen und dann steht sein Leben auf dem Spiel. Das heißt, auch wenn es unwahrscheinlich ist, sollte man hier einen Herzinfarkt nicht ausschließen, denn diesen zu übersehen, kann tödlich sein.

Du siehst, auch wenn Du an die Pferde denkst, darfst Du die Zebras nicht aus den Augen verlieren und umgekehrt. Ich drücke Dir die Daumen, dass es Dir gelingt hier das richtige Gespür zu entwickeln. Und da es eben keine reine Wissenschaft ist, kann man auch mal mit seiner Meinung daneben liegen. Davon kann sich kein Arzt frei sprechen. Die guten Ärzte, und da gehörst Du ja auch dazu, die lernen durch diese Fehleinschätzungen und überlegen sich Lösungsansätze, wie sie es beim nächsten mal besser machen können.

Vielleicht gibt es an Deiner Klinik auch eine „Morbiditäts- und Mortalitäts-Konferenz“. Hier wird offen über eben solche unvorhergesehene Krankheitsverläufe gesprochen und man kann dort eine Menge von den erfahrenen Kollegen lernen. Erkundige Dich, ob auch Du daran teilnehmen darfst!

Viel Erfolg wünscht

Dein Dr. Felix Findig


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