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Morbus mediterraneus und Morbus germanicus

Wie schon gesagt ist die Medizin eine Kunst. Zu dieser Kunst gehört es, Deine Patienten richtig zu verstehen und das ist manchmal gar nicht so einfach. Man sollte annehmen, dass einem ein Patient sagt, dass er Schmerzen hat und wie schlimm es ist.
Doch leider sind die Empfindungen sowie die Arten diese zu äußern von Typ zu Typ unterschiedlich. Da gibt es sowohl bei den Geschlechtern als auch bei der Herkunft der Patienten und Ihrer Sozialisation teilweise grundsätzliche Unterschiede. Um dies für uns Ärzte greifbar zu machen, haben wir (mehr oder weniger wissenschaftlich) die Krankheit „Morbus mediterraneus“ kreiert, die aber trotzdem in keinem Lehrbuch zu finden ist.

Es ist seit längerem bekannt und auch in einigen Studien nachgewiesen, dass die Schmerzschwelle (oder der Punkt, an dem ein Patient Schmerzen äußert) umso niedriger wird, je weiter man in Europa nach Süden wandert. Die Volksgruppen, die dabei besonders schnell Schmerzen äußern, sind die, die rund um das Mittelmeer leben, weshalb der Begriff „Morbus mediterraneus“ geprägt wurde. Er beschreibt also einen Typus von Patient, der schon bei leichten Schmerzen unverhältnismäßige Schmerzäußerungen von sich gibt, so dass man den Eindruck bekommt, er wäre kurz davor zu sterben.

der Patient ...

In einem meiner Notarztdienste wurde ich zu einem Patienten gerufen, der die Treppe hinunter gefallen war. Die Rettungsassistenten waren schon eingetroffen und als ich ankam, hörte ich schon auf der Straße die lauten Schreie des Patienten. Dieser lag am Fuß der Treppe, presste seine Augen zu und schrie mit voller Kraft: „Aaaaah, Aaaaaaah, Aaaaaaah!“
Ich wurde nur kurz unterbrochen von dem hastigen Einatmen, als die Rettungsassistenten mich sichtlich eingeschüchtert fragten: „Ketanest und Dormicum?“, und mich anflehten, den Patienten zu sedieren, da er offensichtlich starke Schmerzen haben musste.
Ich führte meinen Body-Check durch und konnte keine Auffälligkeiten feststellen. Dann schreckte ich kurz auf: „Blut am Ohr!“ Doch der Sohn des Patienten beruhigte: „Das ist von meiner Hand! Ich habe die Scheibe der Haustür eingeschlagen, um meinen Vater zu retten und habe mich dabei geschnitten.“

„Wo tut es denn weh?“ fragte ich den Patienten, doch immer noch schrie er ununterbrochen: „AAaaaah, Aaaaaaah, Aaaaaaah!“ Irgendwas sagte mir, dass da etwas nicht stimmte, und ich nahm meinen Mut zusammen und schrie nun ebenfalls den Patienten an: „Jetzt seien Sie doch mal still! Wir sind doch jetzt hier, um Ihnen zu helfen!“. Und der Patient verstummte.

Er presste zwar immer noch seine Augen zusammen, doch der Transport ins Krankenhaus und in die Röntgenabteilung gestaltete sich nun sehr viel entspannter. Da mir der Patient immer noch nicht sagte, was bzw. wo es ihm eigentlich schmerzte, röntgte ich die typische Stellen, die man sich bei einem Treppensturz brechen konnte: Wirbelsäule, Becken und Hüften. Zurück im Behandlungsraum beurteilte ich dann die Bilder vor dem Patienten und sagte mit kräftiger und selbstsicherer Stimme: „Also da haben Sie aber Glück gehabt! Wie ich auf den Röntgenbildern sehe, haben Sie sich nichts gebrochen!“ In diesem Moment geschah ein Wunder. Ungelogen! Der Patient setzte sich wie ein Stehaufmännchen auf die Bettkante und fragte nur: „Kann ich dann jetzt wieder nach Hause?“ Er konnte...
Die einzige Verletzung die ich dann noch behandeln musste war die Schnittwunde seines Sohnes...

Bevor mir jetzt jemand die Diskriminierung der Mittelmeerbewohner vorwirft vielleicht noch ein Beispiel aus dem Leben, wie es jeder von uns kennt.

Unterschiede - auch bei Patienten...

Wenn Schottland im Fußball gegen Italien antritt, dann treffen zwei Gegensätze aufeinander. Während die Schotten sehr körperbetont spielen und sich nicht so leicht zu Boden zwingen lassen bzw. nach einem Foul sofort wieder aufspringen, um den Ball zurück zu erobern, brauchen diese die Italiener nur zu streifen und schon krümmen sie sich am Boden und rollen von einer Seite auf die andere.

Wie gesagt, das hat viel mit der Sozialisierung zu tun und zeigt nur die Unterschiede, wie die Patienten es gelernt haben, mit Schmerzen umzugehen bzw. diese zu äußern. Es ist fraglich, ob wir Nordeuropäer da „gesünder“ leben, wenn wir die Schmerzen ignorieren oder in uns hineinfressen. Das typische Gegenteil zum „Morbus mediterraneus“ wird von einigen Kollegen daher auch als „Morbus germanicus“ bezeichnet. Da kann der Blinddarm schon geplatzt sein, doch der schlimmste Vertreter dieses Typus sagt zu Dir trotzdem nur: „Da unten zwickt es etwas!“ Was auch als „Dissimulation“ bezeichnet wird, musst Du genau so einschätzen können und daher ist hier Dein ganzes Gespür gefragt.

Viel Glück und das richtige Gefühl für Deine Patienten wünscht Dir

Dein Dr. Felix Findig


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